Plattformökonomie im Fokus: Das BAG-Urteil zu Crowdworkern und die Schatten der Scheinselbstständigkeit

Plattformökonomie im Fokus: Das BAG-Urteil zu Crowdworkern und die Schatten der Scheinselbstständigkeit

Die digi­ta­le Arbeits­welt ver­än­dert rasant die Defi­ni­ti­on tra­di­tio­nel­ler Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se. Ins­be­son­de­re die Platt­form­öko­no­mie mit ihren agi­len Geschäfts­mo­del­len wie dem Crowd­wor­king stellt das deut­sche Arbeits­recht vor gro­ße Her­aus­for­de­run­gen. Im Zen­trum die­ser Debat­te stand und steht das Urteil des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) vom 1. Dezem­ber 2020, das weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen für Platt­form­be­trei­ber und Crowd­wor­ker in Deutsch­land nach sich zieht und die Dis­kus­si­on um die Schein­selbst­stän­dig­keit neu ent­facht hat.

Das BAG-Urteil 2020: Ein Weckruf für die Plattformökonomie

Das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) sorg­te am 1. Dezem­ber 2020 mit sei­nem Urteil (Az. 9 AZR 102/20) für Auf­se­hen: Ein soge­nann­ter Crowd­wor­ker wur­de in die­sem spe­zi­el­len Fall als Arbeit­neh­mer ein­ge­stuft. Die Ent­schei­dung betraf einen „Mikro­job­ber“, der über eine Online-Platt­form Auf­trä­ge zur Kon­trol­le von Pro­dukt­prä­sen­ta­tio­nen in Ein­zel­han­dels­ge­schäf­ten annahm. Obwohl der Crowd­wor­ker for­mal frei ent­schei­den konn­te, wel­che Auf­trä­ge er annahm, sah das Gericht in der Gesamt­wür­di­gung aller Umstän­de eine per­sön­li­che Abhän­gig­keit und Wei­sungs­ge­bun­den­heit gemäß § 611a Abs. 1 S. 1 BGB.

Ent­schei­dend für die Rich­ter waren dabei meh­re­re Fak­to­ren:

  • Kur­ze Bear­bei­tungs­fris­ten: Nach Annah­me eines Auf­trags blie­ben oft nur weni­ge Stun­den für die Erle­di­gung.
  • Detail­lier­te Vor­ga­ben: Die Auf­trä­ge muss­ten nach prä­zi­sen Anwei­sun­gen des Platt­form­be­trei­bers durch­ge­führt wer­den, oft unter Nut­zung einer spe­zi­el­len App.
  • Anreiz­sys­te­me: Ein „Erfah­rungs­punk­te“- und Level­sys­tem moti­vier­te den Crowd­wor­ker, kon­ti­nu­ier­lich Auf­trä­ge zu erfül­len und schal­te­te bei höhe­rem Level mehr Funk­tio­nen frei. Dies wur­de als ein Fak­tor gewer­tet, der auf eine fak­ti­sche Ver­pflich­tung zur Arbeits­leis­tung hin­deu­te­te.

Das Urteil unter­streicht, dass die for­ma­le Bezeich­nung einer Tätig­keit als „selbst­stän­dig“ nicht aus­schlag­ge­bend ist; viel­mehr kommt es auf die tat­säch­li­che Aus­ge­stal­tung der Arbeits­be­zie­hung an. Die­se Ent­schei­dung ist ein kla­res Signal an die Betrei­ber von Crowd­sour­cing-Platt­for­men, ihre Geschäfts­mo­del­le kri­tisch zu über­prü­fen.

Scheinselbstständigkeit bei Crowdworkern: Die rechtliche Grauzone

Der Begriff der Schein­selbst­stän­dig­keit ist das Kern­pro­blem in der Dis­kus­si­on um Crowd­wor­king. Sie liegt vor, wenn eine Per­son zwar offi­zi­ell als selbst­stän­dig agiert, aber tat­säch­lich in einer abhän­gi­gen und wei­sungs­ge­bun­de­nen Posi­ti­on arbei­tet, die einem regu­lä­ren Arbeits­ver­hält­nis ent­spricht. Für Crowd­wor­ker, die oft als fle­xi­ble, unab­hän­gi­ge Auf­trag­neh­mer wahr­ge­nom­men wer­den, ist die Abgren­zung zur Schein­selbst­stän­dig­keit beson­ders hei­kel.

Die Kri­te­ri­en zur Unter­schei­dung zwi­schen Selbst­stän­dig­keit und Arbeit­neh­mer­schaft sind im deut­schen Recht kom­plex und wer­den stets im Ein­zel­fall geprüft. Wich­ti­ge Indi­ka­to­ren für eine abhän­gi­ge Beschäf­ti­gung sind:

  • Wei­sungs­ge­bun­den­heit: Feh­len eige­ner Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten hin­sicht­lich Ort, Zeit, Inhalt und Durch­füh­rung der Tätig­keit.
  • Per­sön­li­che Abhän­gig­keit: Die Not­wen­dig­keit der per­sön­li­chen Leis­tungs­er­brin­gung ohne die Mög­lich­keit, Sub­un­ter­neh­mer ein­zu­set­zen.
  • Inte­gra­ti­on in die Betriebs­or­ga­ni­sa­ti­on: Die Ein­glie­de­rung in die Abläu­fe des Auf­trag­ge­bers, z.B. durch die Nut­zung spe­zi­fi­scher Tools oder Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren.
  • Wirt­schaft­li­che Abhän­gig­keit: Wenn der Crowd­wor­ker nahe­zu aus­schließ­lich für einen Auf­trag­ge­ber tätig ist.

Die Gefahr der Schein­selbst­stän­dig­keit betrifft nicht nur den Crowd­wor­ker, son­dern vor allem auch den Auf­trag­ge­ber. Bei einer Fest­stel­lung kön­nen erheb­li­che Nach­zah­lun­gen von Sozi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­gen fäl­lig wer­den, oft rück­wir­kend für meh­re­re Jah­re. Dies kann zu exis­tenz­be­dro­hen­den Risi­ken für Platt­form­un­ter­neh­men füh­ren.

Sozialversicherung und Arbeitsrecht: Die Folgen der Neubewertung

Die Klas­si­fi­zie­rung eines Crowd­wor­kers als Arbeit­neh­mer hat direk­te und weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen für die Sozi­al­ver­si­che­rungs­pflicht. Ein als Arbeit­neh­mer ein­ge­stuf­ter Crowd­wor­ker hat Anspruch auf alle arbeits­recht­li­chen Schutz­rech­te, die einem regu­lä­ren Beschäf­tig­ten zuste­hen. Dazu gehö­ren:

  • Lohn­fort­zah­lung im Krank­heits­fall
  • Urlaubs­an­sprü­che
  • Kün­di­gungs­schutz
  • Anspruch auf den gesetz­li­chen Min­dest­lohn

Gleich­zei­tig wird der Platt­form­be­trei­ber zum Arbeit­ge­ber und ist ver­pflich­tet, Bei­trä­ge zur Kranken‑, Pflege‑, Ren­ten- und Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung abzu­füh­ren. Die­se Bei­trä­ge sind sowohl vom Arbeit­ge­ber als auch vom Arbeit­neh­mer­an­teil zu tra­gen, und eine nach­träg­li­che Rück­for­de­rung der Arbeit­neh­mer­an­tei­le ist oft nur begrenzt mög­lich.

Die Debat­te um die sozia­le Absi­che­rung von Crowd­wor­kern ist nicht neu. Die deut­schen Sozi­al­ver­si­che­rungs­sys­te­me sind tra­di­tio­nell auf das Nor­mal­ar­beits­ver­hält­nis zuge­schnit­ten. Die Poli­tik hat die Not­wen­dig­keit erkannt, das Arbeits­recht an die neu­en For­men der digi­ta­len Platt­form­ar­beit anzu­pas­sen. Es wird über Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung des Schut­zes von Platt­form­be­schäf­tig­ten und eine mög­li­che Pflicht­ver­si­che­rung für Solo­selbst­stän­di­ge in der Ren­ten­ver­si­che­rung dis­ku­tiert.

Geschäftsmodelle im Wandel: Anpassungsbedarf für die Plattformökonomie

Ange­sichts der recht­li­chen Ent­wick­lun­gen sind Platt­form­be­trei­ber in Deutsch­land gezwun­gen, ihre Geschäfts­mo­del­le anzu­pas­sen. Die Zei­ten, in denen eine ein­fa­che Rah­men­ver­ein­ba­rung die Auf­trag­neh­mer pau­schal zu Selbst­stän­di­gen erklär­te, sind vor­bei. Um das Risi­ko der Schein­selbst­stän­dig­keit zu mini­mie­ren, soll­ten Unter­neh­men fol­gen­de Aspek­te über­prü­fen und gege­be­nen­falls neu gestal­ten:

Vertragsgestaltung und Weisungsfreiheit

Die Ver­trä­ge mit Crowd­wor­kern müs­sen so gestal­tet sein, dass sie eine ech­te Unab­hän­gig­keit des Auf­trag­neh­mers gewähr­leis­ten. Das bedeu­tet, dass kei­ne Ver­pflich­tung zur Annah­me von Auf­trä­gen bestehen darf und der Crowd­wor­ker die Frei­heit haben muss, Ort, Zeit und Art der Aus­füh­rung weit­ge­hend selbst zu bestim­men.

Vermeidung von Anreizsystemen mit Abhängigkeitscharakter

Sys­te­me, die wie das im BAG-Urteil rele­van­te Erfah­rungs­punk­te-Sys­tem einen fak­ti­schen Zwang zur kon­ti­nu­ier­li­chen Arbeits­leis­tung oder zur Akzep­tanz einer bestimm­ten Auf­trags­men­ge erzeu­gen, soll­ten über­dacht wer­den. Sol­che Mecha­nis­men kön­nen als Indiz für eine Ein­glie­de­rung und Wei­sungs­ge­bun­den­heit gewer­tet wer­den.

Transparenz und Kommunikation

Kla­re und trans­pa­ren­te Kom­mu­ni­ka­ti­on über die Erwar­tun­gen und die recht­li­che Ein­ord­nung der Zusam­men­ar­beit ist essen­zi­ell. Platt­for­men soll­ten sich auf die Ver­mitt­lung kon­zen­trie­ren und den Ein­druck ver­mei­den, direk­te Anwei­sun­gen zu geben oder eine Kon­trol­le im Sin­ne eines Arbeit­ge­bers aus­zu­üben.

Urheberrechte und Vertraulichkeit

Dar­über hin­aus soll­ten Unter­neh­men kla­re ver­trag­li­che Rege­lun­gen für die Über­tra­gung von Nut­zungs- und Urhe­ber­rech­ten an den erstell­ten Wer­ken sowie für Ver­trau­lich­keits­pflich­ten schaf­fen. Die­se Aspek­te sind unab­hän­gig vom Sta­tus des Crowd­wor­kers für die geschäft­li­che Nut­zung der Ergeb­nis­se von Crowd­sour­cing-Pro­jek­ten von Bedeu­tung.

Die geplan­te EU-Platt­form­ar­beits­richt­li­nie wird vor­aus­sicht­lich wei­te­re Anpas­sun­gen erfor­dern, da sie einen Ver­mu­tungs­tat­be­stand für ein Arbeits­ver­hält­nis ein­führt, der unter bestimm­ten Bedin­gun­gen greift. Obwohl die Richt­li­nie dar­auf abzielt, Klar­heit zu schaf­fen, könn­te ihre Umset­zung in natio­na­les Recht zu wei­te­ren Unsi­cher­hei­ten füh­ren. Platt­for­men, die früh­zei­tig ihre Geschäfts­mo­del­le über­den­ken, sind bes­ser auf die kom­men­den Rege­lun­gen vor­be­rei­tet.

Rechtliche Fallstricke und Zukunftsausblick

Neben der Schein­selbst­stän­dig­keit und den dar­aus resul­tie­ren­den Sozi­al­ver­si­che­rungs­fra­gen ber­gen digi­ta­le Geschäfts­mo­del­le wei­te­re recht­li­che Fall­stri­cke. Dazu gehö­ren der Daten­schutz, ins­be­son­de­re bei der Ver­ar­bei­tung von Leis­tungs­da­ten der Crowd­wor­ker, und die Fra­ge der Mit­be­stim­mung. Falls ein Unter­neh­men exter­ne Crowd­wor­ker nutzt, kann dies ein Infor­ma­ti­ons- und Bera­tungs­recht des Betriebs­rats aus­lö­sen.

Die Digi­ta­li­sie­rung der Arbeits­welt ist eine fort­lau­fen­de Ent­wick­lung, die das Arbeits­recht stän­dig her­aus­for­dert. Die Bedeu­tung der Platt­form­öko­no­mie wächst ste­tig, und mit ihr die Not­wen­dig­keit, einen gerech­ten Rah­men für alle Betei­lig­ten zu schaf­fen. Der Gesetz­ge­ber ist gefor­dert, das Arbeits­recht an die­se neu­en Rea­li­tä­ten anzu­pas­sen und einen Aus­gleich zwi­schen der Fle­xi­bi­li­tät der Platt­for­men und dem Schutz­be­dürf­nis der Crowd­wor­ker zu fin­den.

Die Dis­kus­si­on dreht sich auch dar­um, ob der bestehen­de Arbeit­neh­mer­be­griff aus­reicht oder ob neue Sta­tus wie „arbeit­neh­mer­ähn­li­che Per­so­nen“ oder „Heim­ar­bei­ter“ geschaf­fen wer­den soll­ten, um den Beson­der­hei­ten der Platt­form­ar­beit gerecht zu wer­den. Die Zukunft der Arbeit in der Platt­form­öko­no­mie wird maß­geb­lich davon abhän­gen, wie Gesetz­ge­ber, Gerich­te und Unter­neh­men die Balan­ce zwi­schen Fle­xi­bi­li­tät und Schutz fin­den und so eine fai­re digi­ta­le Arbeits­welt gestal­ten.

Fazit

Das BAG-Urteil von 2020 hat die Schein­selbst­stän­dig­keit von Crowd­wor­kern in der deut­schen Platt­form­öko­no­mie unmiss­ver­ständ­lich in den Fokus gerückt. Es ver­deut­licht, dass die recht­li­che Ein­ord­nung nicht von der ver­trag­li­chen Bezeich­nung, son­dern von der tat­säch­li­chen Aus­ge­stal­tung der Arbeits­be­zie­hung abhängt. Platt­form­be­trei­ber sind daher drin­gend ange­hal­ten, ihre Geschäfts­mo­del­le anzu­pas­sen, um die weit­rei­chen­den sozi­al­ver­si­che­rungs- und arbeits­recht­li­chen Kon­se­quen­zen einer feh­ler­haf­ten Klas­si­fi­zie­rung zu ver­mei­den. Die Debat­te um eine adäqua­te Regu­lie­rung der digi­ta­len Arbeits­welt, sowohl auf natio­na­ler als auch auf EU-Ebe­ne, wird fort­ge­setzt, um für mehr Rechts­si­cher­heit und fai­re Arbeits­be­din­gun­gen für alle Betei­lig­ten zu sor­gen.

Wei­ter­füh­ren­de Quel­len
https://www.bundesarbeitsgericht.de/entscheidung/9‑azr-102–20/
https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/arbeitnehmereigenschaft-von-crowdworkern/